4. Die unheimliche Herberge in Luxemburg

Wenn wir soweit wie möglich lebendige Demokratie praktizieren wollen, muss nunmehr geprüft werden, was am 29. Juni 2012 zum ESM inhaltlich akzeptiert wurde, wenigstens in den wichtigsten Zügen. Dabei muss es darum gehen, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger auch diesseits und jenseits der politischen Klasse für diesen „spröden“ Sachverhalt zu interessieren, der sowohl die deutschen Souveränitätsrechte als auch unseren wirtschaftlichen Wohlstand und unsere soziale Absicherung erheblich beeinträchtigen wird.

Nehmen Sie sich deshalb etwas Zeit, um wichtige Regelungen des ESM-Vertrages, die Sie vielleicht schon kennen, im Folgenden noch einmal zusammengefasst Revue passieren zu lassen. Es ist allerdings eine Darstellung gewählt worden, die es Ihnen ermöglicht, die Anmaßungen auch dann nachvollziehen zu können, wenn Sie sich mit den „Rettungsschirmen“, speziell mit dem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“, noch nicht weiter befasst haben. Denken Sie daran: Wissen ist die Macht, sich vernünftig wehren zu können.

Am besten stellen Sie sich den institutionellen Rahmen des ESM als eine mit großen Vollmachten ausgestattete, in Luxemburg angesiedelte Gesellschaft vor, die einer Aktiengesellschaft ähnelt. Sie wird allerdings nicht von privaten Managern, sondern von einem Gouverneursrat geleitet, der aus den für die Finanzen zuständigen Ministern der 17 Mitgliedstaaten der Eurozone gebildet wird (ESM-Vertrag, Artikel 5). Die Beschlüsse, die der Gouverneursrat zu den Aktivitäten des ESM fassen kann, sind weitreichend, letztlich reichen sie ins Uferlose, denn er kann auch „sonstige erforderliche Beschlüsse, die in diesem Vertrag nicht ausdrücklich genannt sind“ fassen. Welch schöne, nein schauerliche Ermächtigung!

Im Innenverhältnis des ESM ernennt der Gouverneursrat den Geschäftsführenden Direktor, der als gesetzlicher Vertreter des ESM fungiert und die laufenden Geschäfte nach Weisungen des Direktoriums führt (Art. 7). Das Direktorium wird gebildet (Art. 6), indem jedes Mitglied des Gouverneursrats ein Mitglied des Direktoriums benennt (wobei es jeweils auch Stellvertreter gibt). Das Direktorium hat zwar auch eigene Befugnisse, von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass der Gouverneursrat seine im Vertrag ausdrücklich genannten Befugnisse auf das – in Luxemburg ständig anwesende – Direktorium übertragen kann. In der Tendenz werden deshalb die dem ESM eingeräumten Machtbefugnisse „im Alltagsgeschäft“ vom Geschäftsführenden Direktor und vom Direktorium ausgeübt werden. Dennoch soll im Folgenden (wie im ESM-Vertrag auch) bei Benennung der entsprechenden Befugnisse stets vom Gouverneursrat ausgegangen werden (sofern nicht das Direktorium alleine befugt ist).

Um eine möglichst große Abschirmung der Akteure des ESM nach außen gegen Beobachtungen und kritische Stellungnahmen zu erreichen, werden seine Mittelausstattung und anderes mehr gegen eine Durchsuchung und anderes mehr immunisiert (Art. 32, Abs. 4). Entsprechend sind die Archive, sämtliche Unterlagen und Geschäftsräume des ESM „unverletzlich“ (Abs. 5 und 6) und „das gesamte Eigentum, die gesamte Mittelausstattung und alle Vermögenswerte des ESM von Beschränkungen, Verwaltungsvorschriften, Kontrollen und Moratorien jeder Art befreit“(Abs. 8). Was die personelle „Mittelausstattung“ betrifft, legt das Direktorium „die Beschäftigungsbedingungen für den Geschäftsführenden Direktor und die anderen Bediensteten des ESM fest“ (Art. 33). Und wer tut das für die Direktoren? Wahrscheinlich sie selbst – im Sinne möglichst kurzer Dienstwege wäre das ja verständlich.

Damit die innerhalb des ESM angestellten Erwägungen und die Vorgänge der Beschlussfassung „entre nous“ bleiben, und zwar für alle Ewigkeit, werden alle Akteure des ESM einer umfassenden berufliche Schweigepflicht unterworfen (Art. 34). Und für den Fall, dass dennoch etwas durchsickern sollte, genießen die Akteure „im Interesse des ESM“(!) persönliche „Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommen Handlungen und Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer amtlichen Schriftstücke und Unterlagen“ (Art. 35).

Es ist klar, mit all diesen das Verhältnis des ESM zur Außenwelt abschirmenden Regelungen soll die Basis für eine im Einzelnen schwer kontrollierbare Gewährung von Stabilitätshilfen geschaffen werden. Das ist „im Interesse des ESM“. Doch im Interesse einer demokratischen Kontrolle ist das nicht.

Der ESM beginnt seine Arbeit nach dem Wortlaut des ESM-Vertrages mit einem „genehmigten Stammkapital“ in Höhe von 700 Milliarden Euro, wobei die Genehmigung mit der Ratifizierung des Vertrages durch die 17 Mitgliedstaaten erteilt wird. Das genehmigte, zunächst noch nicht eingezahlte Stammkapital ist in sieben Millionen Anteile (zu einem Nennwert von je 100.000 Euro) aufgeteilt worden. Diese Anteile werden nach Inkrafttreten des Vertrages den Mitgliedstaaten gemäß dem für sie geltenden „Erstbeitragsschlüssel zur Zeichnung zur Verfügung stehen“ (Art. 8, Abs. 1 mit Verweis auf Anhang I).

Diese Formulierung „zur Zeichnung zur Verfügung stehen“ klingt so hübsch, als ob den Mitgliedstaaten ein Angebot zur Zeichnung gemacht würde, und diese darüber entscheiden könnten, wie viel Anteile sie zeichnen wollen. Aber so ist es nicht gemeint, wir haben es vielmehr mit einer Zwangsgesellschaft zu tun, denn es heißt weiter: „Die ESM-Mitglieder verpflichten sich unwiderruflich und uneingeschränkt, ihren Beitrag zum genehmigten Stammkapital gemäß ihrem Beitragsschlüssel in Anhang I zu leisten“ (Art. 8, Abs. 4).

Damit ist klargestellt, dass das dem ESM genehmigte Stammkapital in Höhe von 700 Milliarden exakt die von den Mitgliedstaaten zusammen zu tragende Garantiesumme bestimmt, und dass der Anteil am Stammkapital, der dem einzelnen Mitgliedstaat gemäß Beitragsschlüssel so großzügig „zur Verfügung“ gestellt wird, exakt dem Garantiebetrag gleich ist, den der einzelne Mitgliedstaat übernehmen muss. Das bedeutet beispielsweise für Deutschland: Der Beitragsschlüssel, der sich seinerseits an der Beteiligung der Mitgliedstaaten am Kapital der Europäischen Zentralbank orientiert, beträgt für Deutschland 27,1464 Prozent. Wird dieser Prozentsatz auf das genehmigte Stammkapital von 700 Milliarden Euro angewendet, ergibt sich für Deutschland ein Garantiebetrag von rund 190 Milliarden (oder genau 190 024 800 000) Euro.

Weiterlesen: In der Herberge wird angerichtet: das Stammkapital aufgeteilt

(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])