1. Über die Unfähigkeit des Bundestags zu erschauern

Spätestens im Februar 2010 wurde den letzten Illusionisten klar, dass es in der Europäischen Währungsunion, der Eurozone, Mitgliedstaaten mit gefährlichen Überschuldungsproblemen gibt. Sofort wurde dies als eine (weitere) Bedrohung des Euro interpretiert, der deshalb (erneut) „gerettet“ werden müsse.

Zu dieser Zeit gab es in den EU-Verträgen für den Umgang mit staatlichen Überschuldungen schon lange zwei wichtige Regeln: Einerseits das Verbot, dass die EU gegenüber den Mitgliedstaaten oder die Mitgliedstaaten untereinander für ihre jeweiligen Staatsschulden haften (Art. 125 AEUV). Andererseits das Gebot, dass die EU „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ zu sichern habe (Art. 3 EUV). Beide Regeln werden gleichzeitig erfüllt, wenn zur Überwindung hartnäckiger staatlicher Überschuldungen ein Staatsinsolvenzverfahren eingeleitet wird, das sowohl die Haftung seitens anderer Mitgliedstaaten ausschließt als auch die uneingeschränkte Beteiligung der Gläubiger des betreffenden Schuldnerstaates einschließt. Genau dies hätte dem offensichtlich seit langem schriftlich fixierten „Geist der EU“ entsprochen!

Im Einklang damit hätte im Frühjahr 2010 ein Insolvenzverfahren für das überschuldete Griechenland eine im Einzelnen unterschiedlich ausgestaltbare Entlastung bringen können. Selbstverständlich wären es jetzt die Gläubiger Griechenlands gewesen, die als eigenverantwortliche Marktteilnehmer die notwendigen Konzessionen hätten machen müssen. Daraus eventuell resultierende soziale Härten hätten die Mitgliedstaaten der Eurozone jeweils im eigenen Land durch geeignete Finanzhilfen beseitigen können. Und Griechenland hätte zeigen müssen, was es aus der Entlastung zu machen versteht – ohne das Diktat von „Spar“-Maßnahmen, die geeignet sind, eine Rezession zu verschärfen.

Die Existenz des Euro wäre durch diese Vorgänge nicht gefährdet worden. Vielleicht wäre es zu einer Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar gekommen. Aber das hätte mit einem Untergang des Euro nichts zu tun gehabt (Der Kurs lag übrigens schon einmal bei 0,8 US-Dollar je Euro). Vielleicht hätten die Europapolitiker schließlich die bei ihnen beliebte Redewendung benutzt, der Euro sei „aus der Krise gestärkt hervorgegangen“. Jedenfalls, wie der Prozess im Einzelnen weiter verlaufen wäre, kann man schwer präzisieren. Auch nicht, ob es schließlich ratsam gewesen wäre, dass Griechenland die Eurozone verlässt. Aber gerade deshalb, weil ökonomische Prozesse in vielen Einzelheiten nicht genau voraussehbar sind, ist es zweckmäßig, Risiken dezentral zu bekämpfen und den Marktprozess als Entdeckungsverfahren zu verwenden. Die Nutzung von Insolvenzverfahren stellt eine solche Vorgehensweise dar.

Stattdessen handelten die Europapolitiker seit dem Frühjahr 2010 unter Vertrags- und Vertrauensbruch in einem „neuen Geist“ nach dem letztlich perfiden Motto: Wer die Macht hat, andere Leute durch staatliche Interventionen dazu zu bringen, für seine Schulden oder seine Forderungen zu haften, der ist fein heraus.

So wurde zur angeblichen „Rettung“ des bis dahin gar nicht gefährdeten Euro eine erste Griechenlandhilfe seitens der Mitgliedstaaten der Eurozone beschlossen, und generell zur Stützung überschuldeter Mitgliedstaaten ein Finanzhilfefonds eingerichtet, der mit dem beeindruckenden Namen „Europäische Finanzstabilisierungs-Fazilität“ (EFSF) in die Annalen des europäischen Interventionismus eingehen wird. Die Aktivitäten des EFSF werden letztlich zu Lasten der Steuerzahler durch Garantien der Mitgliedstaaten der Eurozone abgesichert, damit dieser seinen Verbindlichkeiten stets nachkommen kann, die er seinerseits seinen Gläubigern, der „Finanzoligarchie“, gegenüber hat. (Formal Gleiches gilt für die Finanzhilfen der EU als Institution und des IWF).

Die wegen der eingegangenen Garantien mit Recht beunruhigten Bundesbürger wurden von der Bundesregierung, wie Sie sich wohl noch erinnern werden, mit dem Hinweis getröstet: Die Finanzhilfen des EFSF (sowie der EU und des IWF) seien zwar „alternativlos“ notwendig, aber auf drei Jahre befristet. Doch die Tröstungen waren nicht von langer Dauer.

Denn die Entwicklung ging mit Zustimmung der Bundesregierung, der die Bundestagsabgeordneten mehrheitlich stets folgten, exakt in die andere Richtung: Die Idee eines Finanzhilfefonds wurde inhaltlich ausgebaut; die Befugnisse der zuständigen Akteure perfektioniert und eine zeitliche Befristung abgeschafft. Am 2. Februar 2012 beschlossen in diesem Sinne die Staats- und Regierungschefs der 17 Mitgliedstaaten der Eurozone den „Vertag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM). Er wurde anschließend den Mitgliedstaaten als Krönung der im Frühjahr 2010 eingeleiteten Politik „zur Rettung des Euro“ zur Ratifizierung zugeleitet.

Das Zustimmungsgesetz, das unseren Volksvertretern daraufhin als Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit Datum vom 20. März 2012 vorgelegt wurde, besteht – neben einigen angefügten Begründungen – aus 3 kurzen Artikeln. Der in der gleichen Bundestagsdrucksache angehängte ESM-Vertrag hingegen umfasst im DIN-A4-Format 23 Seiten. Zugegebenermaßen leserunfreundlich kleingedruckt, dafür aber zweispaltig in deutsch und englisch. Der dem Bundestagspräsidenten am 23. April 2012 zugeleitete Gesetzentwurf der Bundesregierung unterscheidet sich in Text und Begründung nicht von der zuvor genannten Vorlage vom 20 März (Deutscher Bundestag, Drucksache 17/9045 und 17/9370).

So hatten unsere Volksvertreter Zeit genug, den ESM-Vertrag und die offiziellen deutschen Begründungen, gegebenenfalls mit der Lupe, gründlich zu studieren, den Vertragstext auch zweisprachig. Niemand von ihnen konnte deshalb im Nachhinein behaupten, er habe nicht so genau gewusst, über was er da abgestimmt habe.

Am Abend des 29. Juni 2012 stimmten unsere Volksvertreter im Bundestag mit 82 Prozent der abgegebenen Stimmen dem Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu. Wenige Stunden nach dem Bundestag stimmten auch im Bundesrat 15 Bundesländer für den ESM, nur das von der SPD und Der Linken regierte Brandenburg war dagegen.

Weiterlesen: 2. Demokratisch legitimiert durch Fraktionszwang?

(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])