Deutschland, Zahlmeister der EU
Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung
Die Funktionäre der Europäischen Gemeinschaft, heute der EU, bezeichnen seit langem die nach Brüssel fließenden Finanzmittel als die ihnen zur Verfügung stehenden „Eigenmittel“, weil dazu auf der nationalen Ebene der Mitgliedstaaten keine weiteren Beschlüsse gefasst werden müssen. In diesem Bewusstsein, über etwas „Eigenes“ zu disponieren, werden die operativen Ausgaben der EU in den Mitgliedstaaten als eine eigene Leistung der EU herausgestellt, und der Verwaltungsapparat mit den üppigen Gehältern und Pensionen erscheint als Schöpfung eines gönnerhaften souveränen Arbeitgebers. Diese Sichtweise ist geeignet, die hinter den Transaktionen nach Brüssel steckende Leistung der zahlenden Mitgliedstaaten in den Hintergrund zu drängen. Und das ist ja wohl auch die Absicht.
Auf diese Tendenz, die nationalen Leistungen herunterzuspielen, kann in den einzelnen Mitgliedstaaten recht unterschiedlich reagiert werden. In Deutschland jedenfalls ist schon seit langem ein eindeutiger Widerstand gegen eine solche Herabsetzung spürbar: „Wir sind der Zahlmeister“ ist eine häufig verwendete Redewendung – je nachdem mit stolzem, nachdenklichem, kritischem, sarkastischem oder wütendem Unterton. Hier setzt mein Buch an. Manches von dem, was vielleicht bislang mehr „gefühlt“ wurde, wird präzisiert.
Auf der Grundlage einer ausführlichen empirischen Untersuchung wird gezeigt, welche Zahlmeisterfunktionen Deutschland im Kreis der anderen Mitgliedstaaten bereits übernommen hat. Zeitlich gesehen liegt der Schwerpunkt auf dem Zeitraum seit der deutschen Wiedervereinigung, beginnend mit 1991 als dem ersten vollständigen Jahr nach der Wiedervereinigung.
Um für die Darstellung Deutschlands als mehrfachem Zahlmeister sicheren Boden unter die Füße zu bekommen, wird mit einigen wichtigen finanziellen Beziehungen innerhalb der EU begonnen. Als Anschauungsmaterial werden exemplarisch die Daten des Jahres 2008 verwendet (die zum Zeitpunkt meiner empirischen Untersuchung die jüngsten verfügbaren Daten waren). Es zeigt sich, wie die nationalen Beiträge der Mitgliedstaaten, die operativen Ausgaben der EU in den Mitgliedstaaten und die Nettopositionen der Mitgliedstaaten in einfacher Weise zusammenhängen. Damit wird sozusagen ein Basiswissen vor allem für diejenigen aufbereitet, die sich erstmals mit dem Thema etwas näher beschäftigen wollen.
Anschließend werden Ausmaß und Verteilung der finanziellen Lasten innerhalb der EU mit Deutschland als Zahlmeister „in der Mitten“ Schritt für Schritt vorgeführt. Dabei geht es vor allem um folgende Fragen:
- Sind die drei größten Volkswirtschaften der EU – Deutschland, Frankreich und Großbritannien – bereits bei den nationalen Beiträgen zum EU-Haushalt unterschiedlich behandelt worden? Wurde für Großbritannien „eine Extrawurst gebraten“?
- Welche Belastung hat sich im Laufe von fast zwanzig Jahren für den deutschen Bundeshaushalt durch die Überweisung von Haushaltsmitteln nach Brüssel ergeben?
- In welchem Umfang ist Deutschland als Zahlmeister neben anderen Nettozahlern an der Finanzierung der Nettoempfänger beteiligt gewesen?
- In welchem Umfang waren Irland, Griechenland, Portugal und Spanien als Nettoempfänger schon seit langem die großen Gewinner?
- Ist auf Deutschland als Nettozahler nach der Wiedervereinigung besondere Rücksicht genommen worden?
- Wie viel ist dem Zahlmeister von den finanziellen Lasten aufgebürdet worden, die andere Nettozahler bei gerechter Lastenverteilung hätten tragen müssen?
- Waren somit auch Frankreich, Großbritannien und Italien Gewinner auf Kosten Deutschlands?
Eine Zusammenfassung der Umverteilung von den Nettozahlern zu den Nettoempfängern für einen größeren Zeitraum zeigt schließlich die Transferunion, die sich infolge der Beteiligung der Mitgliedstaaten am EU-Haushalt ergibt. Um das ganze Gewicht dieser Transferunion deutlich zu machen, habe ich für diesen Zweck die empirische Untersuchung zeitlich so weit vorgezogen wie es aufgrund des verfügbaren Datenmaterials möglich war: Damit erhalten wir erstmals einen Überblick über die innerhalb des EU-Haushalts bestehende Transferunion von 1976 bis 2008: „Dreiunddreißig Jahre Transferunion“.
Das Gesamtvolumen dieser Transferunion bewegt sich im zwei- und dreistelligen Milliardenbereich, an dem Deutschland als Zahlmeister mit einem hohen Prozentsatz beteiligt ist. Somit kann Deutschland für sich in Anspruch nehmen, in der Europäischen Gemeinschaft in hohem Maße Solidarität geübt zu haben – abgesehen von allen sonstigen Bewertungen, die in meinem Buch geprüft werden. So lässt sich beispielsweise die einseitige Belastung Deutschlands nicht mit den deutschen Exporten auf dem Binnenmarkt rechtfertigen. Damit kann Deutschlands Solidarität nicht „kleingeredet“ werden.
Von jeher hat die Europäische Kommission die Diskussion über die Umverteilung innerhalb der EU „auf Sparflamme gehalten“. Die politische Klasse in Deutschland hat das nicht nur toleriert, sondern sich selbst im Großen und Ganzen ebenso verhalten. Das führte dazu, dass seit 2010 „in Zeiten der Rettungsschirme“ die im Rahmen des EU-Haushalts seit Jahrzehnten bereits getragenen finanziellen Lasten argumentativ so gut wie keine Rolle spielen. Es wird erst jetzt von einer „Transferunion“ gesprochen, so als ob es in der EU nicht schon längst eine erste Transferunion geben würde. Es wird von einem „Marshall-Plan“ für Griechenland gesprochen, so als ob Griechenland nicht schon, 1981 beginnend, zum (relativ) größten Nettoempfänger aufgestiegen wäre.
Das öffentliche Beschweigen der schon existierenden ersten Transferunion ist umso erstaunlicher, weil es sich bei diesen zwei- und dreistelligen Milliardenbeträgen um solche handelt, die bereits endgültig transferiert worden sind, und weil sich diese seit 2009 Jahr für Jahr weiter erhöhen. Hingegen stellt im Rahmen der Garantiesummen der Rettungsschirme erst das zu zahlende Haftungskapital einen endgültigen Transfer dar. Erst dieser kann unmittelbar mit den Zahlungen der ersten Transferunion verglichen werden.
Im übrigen: Die innerhalb des EU-Haushalts bestehenden finanziellen Beziehungen, die sich unter anderem in der ersten Transferunion niederschlagen, sind relevant, solange es die EU geben wird. Die Existenz der ersten Transferunion dürfte sogar eine wichtige Bedingung dafür sein, dass die EU als Institution wesentlich robuster ist als die Europäische Währungsunion, denn die Nettoempfänger werden sich die unmittelbare, „reibungslose“ Unterstützung über den EU-Haushalt nicht gerne nehmen lassen. Die Währungsunion hingegen muss, zumindest was die Zahl der Mitglieder oder überhaupt ihre Zusammensetzung betrifft, eher als ein „Wackelkandidat“ eingestuft werden.
Olzog Verlag
Broschiert: 160 Seiten, EUR 19,90
ISBN-13: 978-3789283321
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