Was die Abstimmung im Bundestag betrifft, muss wohl von einer bitteren Lektion gesprochen werden. Wenigstens dann, wenn man (wie ich) naiv genug ist anzunehmen, alles sollte sich auf dem Boden des Grundgesetzes abspielen.
In öffentlichen Diskussionen werden wir von Politiker gerne ermahnt, mit unseren Argumenten, Haltungen und Verhaltensweisen auf jeden Fall „auf dem Boden des Grundgesetzes zu bleiben“. Dagegen ist für jeden aufrechten Demokraten nicht das Geringste einzuwenden. Nur sollte man sich versichern, ob die Politiker das auch für sich gelten lassen. Wie steht es beispielsweise im konkreten Fall mit dem so wichtigen Artikel 38 des Grundgesetzes? Dort heißt es seit dem 23. Mai 1949 unverändert über die Abgeordneten des Bundestages: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“.
Mit einem „Schön wär´s ja“ wird die Eingangsformulierung „Sie sind“ gelegentlich ironisch kommentiert. Aber dabei sollten wir es nicht bewenden lassen. Denn gemeint sind ja mit dem „Sie sind“ zwei sich ergänzende, wichtige Normen: Die Abgeordneten dürfen nicht durch Aufträge und Weisungen gebunden werden und sie dürfen nur ihrem Gewissen folgend entscheiden. Genau gegen diese Normen wird mit dem anscheinend oft als selbstverständlich hingenommenen „Fraktionszwang“ innerhalb der Bundestagsfraktionen verstoßen. Und wie dieser Fraktionszwang zur Vorbereitung der Abstimmung am 29. Juni im einzelnen ausgesehen hat, darüber könnten nur die betroffenen Abgeordneten selbst authentisch berichten.
Aber es gab einen öffentlich registrierbaren Vorgang, der exemplarisch ausreichend zeigt, mit welcher Rücksichtslosigkeit bei den Fraktionszwängen gelegentlich vorgegangen worden sein muss. Ich meine die „Maulkorb-Affäre“ vom April 2012. Da hatte sich doch den Presseberichten zufolge der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestages mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD ausgedacht, es sollten künftig nur solche Abgeordnete im Plenum das Wort erteilt bekommen, die zuvor von den Fraktionen dazu bestimmt wurden. Mit einer kleinen Einschränkung: „Andere“ Abgeordnete, sprich unliebsame Abweichler von der vorgegebenen Meinungseinfalt zum ESM-Vertrag, sollten ausnahmsweise (!) maximal drei (!) Minuten im Bundestag sprechen dürfen. Zur Vollendung dessen hatten sich die gleichen Demokraten des Geschäftsordnungsausschusses offenbar ausgedacht, dass diese Neuregelung im Bundestag ohne Debatte (!) beschlossen werden sollte.
Der Protest gegen dieses Vorhaben war indes im Bundestag selbst und in der breiteren Öffentlichkeit so groß, dass die Macher im Geschäftsordnungsausschuss schleunigst einlenken mussten. Was jedoch davon hängen geblieben ist, ist der deprimierende Eindruck, mit welcher antidemokratischen, repressiven Gesinnung innerhalb der Fraktionen gerechnet werden muss, „wenn es darauf ankommt“. Und im konkreten Fall die bestürzende Einsicht: Wie stark muss der – nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehende – Fraktionszwang gewesen sein, um den Weg zur Abstimmung über den ESM-Vertrag plattzuwalzen.
Kein Wunder also, dass bei 604 abgegebenen Stimmen nicht weniger als 493 Abgeordnete der CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen mit „ja“ stimmten. Die Unfähigkeit, vor dem eigenen Ja zu erschauern, muss bei diesem oder jenem Abgeordneten von dem Kalkül bestimmt gewesen sein, sonst bei der nächsten Bundestagswahl keinen aussichtsreichen Listenplatz eingeräumt zu bekommen, oder von anderen Ängsten vor materiellen und sozialen Nachteilen.
Wir können zwar nicht wissen, wie viele Abgeordnete aus diesen – existenziell betrachtet ja durchaus einsehbaren – Gründen mit „ja“ gestimmt haben. Es hat auch keinen Sinn, nachträglich durch eine diskrete Umfrage bei den Abgeordneten herausfinden zu wollen, ob sie anders abgestimmt hätten, wenn es diesen als bedrohlich empfindbaren Fraktionszwang nicht gegeben hätte. Denn das Ergebnis eines solchen nachträglichen „Tests“ ist aus (hier nicht näher diskutierbaren) psychologischen Gründen viel zu ungenau. Aber auch so können die Politiker unseren dringenden Verdacht nicht aus der Welt schaffen, dass der anscheinend rücksichtslos geübte oder doch als gefährlich empfundene Fraktionszwang für die Zustimmung zum ESM-Vertrag schließlich den Ausschlag gab.
Dieser Verdacht wird durch folgende Überlegung verstärkt: Von den (gegenwärtig) 620 Mitgliedern des Bundestages mussten zumindest zwei Drittel, also 465 Abgeordnete, zustimmen. Tatsächlich waren es 493 Ja-Stimmen. So „überwältigend“ war diese Mehrheit demnach nicht. Und vor allen Dingen, es kann nicht ausgeschlossen werden, dass von diesen Ja-Stimmen vielleicht 50 oder 100 oder irgendeine andere Zahl in ähnlicher Größenordnung nur deshalb zustande gekommen ist, weil es den Fraktionszwang gab. Diejenigen, die dieses Mittel angewandt haben, müssen sich deshalb die Feststellung gefallen lassen, dass sich nach allem, was zu beobachten ist, ein durchaus gefestigter Verdacht besteht, die Zustimmung zum ESM-Vertrag nur durch Repressionen erreicht zu haben – Repressionen, die nach dem Grundgesetz „eigentlich“ unzulässig sind, denn die Abgeordneten dürfen, um es der Dringlichkeit wegen zu wiederholen, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden werden“.
Weiterlesen: 3. Proteste gegen den ESM-Vertrag im Bundestag
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])