16. Verfassungskonform und dennoch geputscht?

Das Bundesverfassungsgericht hat am 12. September 2012 „Im Namen des Volkes“ die Verfassungsbeschwerden (die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) abgelehnt (siehe: http://bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen). Die Ablehnung erfolgte aber unter dem Vorbehalt, dass die Ratifizierung des ESM-Vertrages nur erfolgen darf, wenn zwei Bedingungen völkerrechtlich sichergestellt sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat einerseits der im ESM-Vertrag angelegten Abschirmung der oben beschriebenen „unheimlichen Herberge“ einen Dämpfer verpasst: Deutschland darf den ESM-Vertrag nur ratifizieren, wenn trotz der dort geregelten Unverletzlichkeit der Unterlagen und der persönlichen Schweigepflicht „die Bundesrepublik Deutschland eine Vertragsauslegung sicherstellt, die gewährleistet, dass Bundestag und Bundesrat bei ihren Entscheidungen die für die Willensbildung erforderlichen umfassenden Informationen erhalten“. Wie das im Einzelnen aussehen könnte, wird man abwarten müssen.

Das Bundesverfassungsgericht hat andererseits die finanzielle Belastung Deutschlands zwar nicht eindeutig begrenzt, aber mögliche Erhöhungen an eine Bedingung geknüpft. Es geht dabei von der Regelung des ESM-Vertrages aus: „Die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt“ (Art. 8, Abs. 5, Satz 1).

Der erste flüchtige Eindruck, mit dieser Regelung würde der Garantiebetrag der einzelnen Mitgliedstaaten gedeckelt, trügt. Denn in dieser Regelung wird auf den „Ausgabekurs“ der abrufbaren Kapitalanteile Bezug genommen, und damit die Möglichkeit berücksichtigt, dass die Gouverneure Aufschläge auf die abrufbaren Kapitalanteile festlegen können (Belastungsstufe zwei). .Außerdem wird in dieser Regelung vom „Anteil“ eines Mitgliedstaates am genehmigten Stammkapital ausgegangen. Dies schließt die Möglichkeit ein, dass die ursprünglichen Anteile von Mitgliedstaaten erhöht werden, wenn andere Mitgliedstaaten die abgerufenen Anteile nicht zahlen können (Belastungsstufe drei).

Der Art. 8, Abs. 5, Satz 1 ist somit mit den übrigen einschlägigen Regelungen des ESM-Vertrages kompatibel und impliziert, dass aus doppeltem Grund, aber in schwer vorhersagbarem Umfang der Anteil eines Mitgliedstaates am genehmigten Stammkapital vom ursprünglichen Anteil nach oben abweichen kann. Die 190 024 800 000 Euro für Deutschland (bei gegebenen 700 Milliarden Stammkapital insgesamt) sind nicht die Obergrenze, sondern die Untergrenze für die Haftungsbeträge.

Indem nun das Bundesverfassungsgericht den Wortlaut des Art. 8, Abs. 5, Satz 1, akzeptierte, war klar, dass anhand dieser Regelung gar nicht von einer Begrenzung auf „ die 190 Milliarden“ ausgegangen werden konnte. So wird de facto seitens des Bundesverfassungsgerichts von der Bundesregierung auch nur gefordert, „völkerrechtlich sicherzustellen…, dass keine Vorschrift dieses Vertrages so ausgelegt werden kann, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des deutschen Vertreters höhere Zahlungsverpflichtungen begründet werden“. Gemeint ist mit dem „deutschen Vertreter“ der deutsche Gouverneur oder im Falle der Delegierung der entsprechenden Funktionen an das Direktorium der vom deutschen Gouverneur ernannte Direktor (oder deren jeweiligen Stellvertreter). Der Bundstag wird in diesen Fällen also nicht eingeschaltet.

Gemessen an dem, was in den vielen Verfassungsbeschwerden an möglichen Verstößen gegen die deutsche Verfassung vorgetragen wurde, sind die vom Bundesverfassungsgericht verfügten Auflagen ernüchternd wenig. Der ESM-Vertrag ist im Großen und Ganzen als verfassungskonform eingestuft worden. Dies muss – abgesehen von einer daran anknüpfbaren, zweifellos notwendigen rechtspolitischen Auseinandersetzung – zunächst als Tatbestand akzeptiert werden.

Andererseits braucht es nicht hingenommen zu werden, wenn dieser Tatbestand politisch missbraucht wird. Dies ist der Fall, wenn in den Medien Land auf und Land ab verkündet und von der politischen Klasse gerne gehört und kolportiert wird: „Karlsruhe hat den ESM gebilligt“. Diese „Billigung“ oder ähnliche Formulierungen beschreiben den Sachverhalt falsch, denn mit der Feststellung der „Verfassungskonformität“ wird zwar gesagt, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht die notwendige Bedingung für die Existenz eines ESM erfüllt ist. Damit „bestätigt“ das Bundesverfassungsbericht aber nicht die „Richtigkeit“ der im Rahmen dieser notwendigen Bedingung betriebenen Politik. Denn wie diese Politik zu beurteilen ist, hängt nicht nur von dieser notwendigen Bedingung, sondern auch davon ab, wie der ESM aus der Perspektive weiterer Normen zu beurteilen ist. Darüber hat ein Verfassungsgericht nicht zu befinden.

Die ökonomischen und sozialen Nachteile des ESM bestehen auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiter. Dass uns mit dem ESM eine solche Konzeption der Knebelung der Bürger zugemutet werden soll, dafür tragen nach wie vor die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die Verantwortung. Um es auf den Punkt zu bringen: Es kann von der politischen Klasse eben auch verfassungskonform gegen das Volk geputscht werden.

Weiterlesen: 17. Weitere Empörungen in unserer Zivilgesellschaft

(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])