10. Schlussbemerkungen: Solidarität und Verantwortung

Die nunmehr für 23 Jahre ermittelten Eckwerte, die, wie gesagt, auch etwas anders aufbereitet sein könnten, werfen erneut die Frage auf, wie es in der EU mit der deutschen Solidarität bestellt ist, oder auch: mit der deutschen Verantwortung – wobei „Solidarität“ und „Verantwortung“ als zwei Begriffe mit einer großen Schnittmenge behandelt werden können.

Unsere Politiker fordern uns nicht nur in Sonntags- und Aschermittwochsreden dazu auf, „in Europa“ Solidarität zu üben, Verantwortung zu tragen. Abgesehen davon, dass sie mit „Europa“ ja wohl die EU meinen, ist dagegen gar nichts einzuwenden. Aber hängt die immer wieder beklagte „Politikverdrossenheit der Deutschen“ auch damit zusammen, dass wir immer wieder für die EU zu Einstellungen und Verhalternsweisen aufgefordert werden, die wir längst haben und praktizieren? Und wie steht es mit der leicht formulierbaren Aufforderung, wir müssten mehr Solidarität üben, mehr Verantwortung tragen? Tun wir das nicht schon in hohem Maße? Wohin soll denn dieses „Mehr“ führen?

Müssen wir nicht allmählich den Eindruck gewinnen, wir sollten mit hinreichend unbestimmten Begriffen wie „Solidarität“ und „Verantwortung“ in eine hinreichend unbestimmte Lastenlage gebracht werden? Ohne Präzisierung der Sachlage wird es jedenfalls nicht gehen. Unsere Tabelle ist eine Form einer derartigen Präzisierung. Die Eckwerte sind präziser Ausdruck für unsere bereits seit Jahrzehnten geübte Solidarität, für bereits getragene Verantwortung. Diese Eckwerte können nachträglich nicht mehr korrigiert werden. Aber wir können fragen, welche Konsequenzen daraus für die Zukunft vielleicht gezogen werden könnten. Das kann an dieser Stelle allerdings nur mit einigen Stichworten angedeutet werden.

■ Wir können davon ausgehen, dass die nationalen Beiträge und deren Korrekturen bis hin zu den angepassten nationalen Beiträgen im großen und ganzen – an den BNE und den Mehrwertsteueraufkommen orientiert – als „gerecht verteilt“ gelten können. Welches Volumen unter dieser Bedingung die finanzielle Belastung der Mitgliedstaaten ausmacht, hängt dann noch von der Höhe der Belastungsraten und damit von der Zielsetzung ab, welches Volumen der EU-Haushalt haben soll. Wenn unter diesen Bedingungen für Deutschland an angepassten nationalen Beiträgen 383,6 oder hochgerechnet 451,5 Milliarden Euro zustande gekommen sind (Tabelle, Sp. 1), dann muss Deutschland in besonderem Maße daran interessiert sein, wie es weitergehen soll.

■ Für eine Erhöhung des jährlichen EU-Haushalts und damit der jährlichen Belastungen der Mitgliedstaaten spricht (neben einem Inflationsausgleich) insbesondere die Übertragung neuer Aufgaben auf die Europäische Kommission, also eine weitere Zentralisation. Dem steht das Argument gegenüber, das bei der Entscheidung zur Finanzplanung für 2014 bis 2020 eine Rolle gespielt hat: „Wenn überall gespart werden muss“ und die nationalen öffentlichen Haushalte besonders angespannt sind, dann muss auch das Volumen des EU-Haushalts reduziert werden. Das ist aber nur, wenn man so sagen darf, das „konjunkturelle Argument“.

■ Denn es gibt auch ein „strukturelles Argument“: Wie müssen uns nämlich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips fragen, ob und in welchem Umfang bislang der Europäischen Kommission übertragene Aufgaben auf die Mitgliedstaaten zurückübertragen werden sollten, also insoweit eine Dezentralisation erfolgen sollte. Wenn man damit ernst macht, würde höchstwahrscheinlich im Saldo zwischen Zentralisation und Dezentralisation eine dauerhafte Reduzierung des EU-Haushaltsvolumens erreicht werden.

■ Die obige einschränkende Feststellung, die Verteilung der nationalen und der angepassten nationalen Beiträge sei „im großen und ganzen“ gerecht, zielt darauf ab, dass die Großbritannien gewährten Abschläge auf die nationalen Beiträge als der Pferdefuß der Gerechtigkeit interpretiert werden müssen. Es ist zwar versucht worden, die Abschläge mit einem spezifischen nur Großbritannien betreffenden Nachteil zu rechtfertigen, aber ich halte diese Begründung für falsch („Zahlmeister“, Kapitel 3, S. 47 ff.). Die nicht gerechtfertigte, einseitige Begünstigung Großbritanniens betrug von 1985 bis 2011 insgesamt (und noch vor einer Hochrechnung) 96,9 Milliarden Euro. Indem Großbritannien darauf bestanden hat, in dieser Höhe Milliarden im eigenen Interesse selbst auszugeben, ist dezentralen Entscheidungen in London der Vorzug gegenüber zentralen Entscheidungen in Brüssel gegeben worden. De facto ist damit im Sinne des Prinzips der Subsidiarität zugunsten der dezentralen Instanz entschieden worden – auch seitens der EU, denn sie hat ja den Abschlägen zugunsten Großbritanniens zugestimmt.

■ Daran ist für die nächste siebenjährige Finanzplanung bis 2020 nicht gerüttelt worden. Ergänzend muss berücksichtigt werden, dass im Rahmen der Integrierung von Bereichen der Innen- und Rechtspolitik drei Mitgliedstaaten, nämlich Großbritannien, Irland und Dänemark, schon vor Jahren eingeräumt wurde, daran nicht im gleichen Umfang teilzunehmen, wie die übrigen Mitgliedstaaten. Die drei Mitgliedstaaten erhalten dafür wiederum einen – wenngleich wesentlich geringeren – Abschlag. Auch hier ist unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zugunsten dezentraler Befugnisse entschieden worden, und auch daran ist für die Zeit bis 2020 nicht gerüttelt worden.

■ Nach all diesen Beobachtungen ist es der EU offenbar nicht fremd, mit dem Subsidiaritätsprinzip zu arbeiten. Deshalb sollte man nachhaken. Was (insbesondere) im Fall Großbritanniens in größerem Umfang schon lange richtig ist und ab 2014 weiter richtig sein soll, wieso sollte das nicht auch für alle anderen Mitgliedstaaten gelten? Man kann Privilegien nicht nur abschaffen, indem man den Begünstigten das Privileg entzieht, sondern auch dadurch, dass man allen anderen die gleichen Begünstigungen zukommen lässt. Hier bietet sich der EU eine große Chance, die Integration langfristig wieder stärker dezentral zu gestalten und damit die nationalen Beiträge ebenso wie die operativen Ausgaben zu senken. Es muss endlich damit aufgehört werden, unter „Integration“ nur Zentralisation zu verstehen.

■ Beim gegenwärtigen Volumen der EU-Haushalte, geschweige denn bei einer weiteren Expansion, wird sich in absehbarer Zeit ein weiteres Problem auftun: Wenn und soweit von Mitgliedstaaten im Rahmen der Schuldenkrisenpolitik merkliche Haftungssummen gezahlt werden müssen, haben die betreffenden Finanzminister „für Europa“ gleichzeitig merkliche nationale Beiträge und merkliche Haftungssummen zu überweisen. Hierin besteht, so muss wohl angenommen werden, vor allem für uns Deutsche mit den absolut größten Beträgen ein großes Konfliktpotential. Werden die Bürger spätestens dann gegen eine Überstrapazierung des Solidaritätsgedankens protestieren?

■ Was die im EU-Haushalt eingebaute Transferunion betrifft, sind nach den Beschlüssen zum Finanzrahmen 2014 bis 2020 – abgesehen von den Fragen nach dem Volumen des EU-Haushalts – vorläufig keine konzeptionellen Änderungen in Sicht:

►So gibt es weiterhin keine Regelungen, die umreißen, unter welchen Bedingungen ein bisheriger Nettoempfänger entweder in eine neutrale Position oder in die Position eines Nettozahlers überführt werden sollte.
►Es gibt weiterhin keine dezidierte Erklärung seitens der EU dahingehend, dass eine reguläre Mitgliedschaft der Türkei in der EU schon deshalb nicht infrage kommen kann, weil sonst Verpflichtungen gegenüber einem Nettoempfänger eingegangen werden müssten, die alles bislang Praktizierte weit übersteigen würde. Schon deshalb muss eine anders geartete Partizipation der Türkei an der EU die Lösung sein.
►Es gibt weiterhin keine Regelungen, die festlegen, dass sämtliche Nettozahler nach einem einheitlichen Maßstab – beispielsweise auf das BNE bezogen – Jahr für Jahr relativ gleich zu belasten sind (vgl. „Zahlmeister“, S.132 ff.).
►Und solange – insbesondere – Großbritannien mit einem Abschlag auf die nationalen Beiträge privilegiert ist, wird eine ansonsten schon bestehende Ungleichverteilung der Nettobeiträge verschärft.
►Es fehlen Regeln, mit denen durch Anpassung an die üblichen Regeln in den Mitgliedstaaten die Selbstbereicherung der EU-Bürokratie beendet wird.

■ Bei all diesen Überlegungen geht es nicht darum, Solidarität und Verantwortung einseitig auf andere Mitgliedstaaten abzuschieben. Dass Deutschland bereit ist, innerhalb der EU in großem Maße Solidarität und Verantwortung zu tragen, ist inzwischen empirisch hinreichend belegt. Aber gerade deshalb wäre es an der Zeit, wenn die Bundesregierung auch in dieser Hinsicht die deutschen Interessen besser vertreten würde.

Heidelberg, 13. Februar 2013

(aus: „Deutsche Eckwerte – Beteiligung Deutschlands am EU-Haushalt seit der Wiedervereinigung“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])