Es gibt jedoch die Möglichkeit, dass die Gouverneure die Belastungsschraube bei den Abrufen weiter anziehen. Die „unscheinbare“ Regelung dazu lautet: „Andere Anteile (gemeint sind die abrufbaren Anteile) werden zum Nennwert ausgegeben, sofern der Gouverneursrat nicht unter besonderen Umständen eine anderweitige Ausgabe beschließt“ (Art. 8, Abs. 2).
Wenn beispielsweise bei Deutschland 5 Milliarden Euro Haftungskapital abgerufen werden, dann sind das aus der Perspektive des ESM formuliert 50 000 Anteile zu einem Nennwert von je 100 000 Euro. Das entspricht der bisherigen Argumentation. Jedoch: „Unter besonderen Umständen“, die der Gouverneursrat offenbar selbst definieren darf, kann er eine „anderweitige Ausgabe“ beschließen. Der in dieser Formulierung steckende stille Zynismus der Macher des ESM-Vertrages besteht darin, dass eine „anderweitige Ausgabe“, also Abweichung vom Nennwert, offen lässt, ob von dem Nennwert nach oben oder unten abgewichen wird, jedoch nur eine Abweichung nach oben gemeint sein kann.
Nehmen wir an, der Gouverneursrat verlange einen Aufschlag, ein „Agio“, von 20 Prozent. Dann bedeutet das in dem angenommenen Fall für Deutschland: Auf den Garantiebetrag von 168 Milliarden werden 5 Milliarden als abgerufenes Haftungskapital angerechnet, aber der Finanzminister muss 20 Prozent mehr überweisen, somit insgesamt 6 Milliarden. Nehmen wir nun an, der Gouverneursrat befinde sich andauernd in „besonderen Umständen“ und verlange bei allen Abrufen stets 20 Prozent mehr als auf den Garantiebetrag angerechnet wird. Dann hat Deutschland schließlich, wenn der Garantiebetrag in Höhe von 168 Milliarden ausgeschöpft wird, zusätzlich 33,6 Milliarden an Haftungskapital gezahlt.
Damit können wir im Falle Deutschlands noch einen Schritt weitergehen, indem wir die sichere Kapitalbeteiligung von 22 Milliarden einbeziehen. An die Stelle der bislang angenommenen Maximalbelastung von 190 (= 22 + 168) Milliarden tritt eine Belastung von 223,6 (= 22 + 168 +33,6) Milliarden.
Natürlich kann man jetzt darüber diskutieren, ob die 20 Prozent nicht etwas hoch gegriffen sind. Vielleicht gilt das für den Anfang. Aber je länger der ESM seine interventionistische Schuldenpolitik betreibt, umso mehr ESM-Verluste werden als „besondere Umstände“ eintreten und die „Gier der Gouverneure nach Prozenten“ steigern. Entscheidend ist für die Gouverneure dann, dass für die Aufschläge keine Höchstgrenze festgesetzt worden ist. So können auch 30 Prozent und mehr zustande kommen. Das zuvor für Deutschland ermittelte Ergebnis kann somit nur etwas über die mögliche Größenordnung aussagen, mit der unter der Bedingung, Aufschläge verlangen zu können, gerechnet werden muss.
Weiterlesen: 10. „Revidiert erhöhte“ Kapitalabrufe: Belastungsstufe drei
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])