3. Proteste gegen den ESM-Vertrag im Bundestag

Demgegenüber waren die mit „Nein“ stimmenden Abweichler aus den Reihen der vier zuvor geprüften Parteien „verfahrenstechnisch“ gesehen die Unterlegenen. Aber es war keine Niederlage. Denn indem sie dem möglicherweise Bedrohlichen eines Fraktionszwanges widerstanden, haben sie dem Grundgesetz folgend allein von ihrem Gewissen Gebrauch gemacht. Es waren der Zahl nach und (in Klammern) prozentual zu den Ja-Stimmen der einzelnen Fraktionen in der FDP 10 (10,9), in der Union 16 (6,8), in der SPD 8 (5,7) und bei den Grünen 1 (1,5). Insgesamt waren es also 35 Nein-Stimmen, die gemessen an allen Ja-Stimmen dieser vier Parteien 7,1 Prozent ausmachten. Ob das nun „viel“ oder „wenig“ ist, mag zunächst dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall waren es die Mutigen, von denen sich so mancher „eine Scheibe abschneiden“ könnte.

Unterstützt wurden die Abweichler de facto von den 71 Nein-Stimmen der Linken, die möglicherweise intern ihr eigenes Problem hatten, alle Abgeordneten auf ein „Nein“ einzuschwören (was hier dahingestellt bleiben muss). Auf jeden Fall hat sich von ihrer Fraktion niemand der Stimme enthalten. Insoweit schöpfte Die Linke ihr Potenzial, mit „Nein“ zu stimmen, restlos aus. An ihr hat es demnach nicht gelegen, wenn insgesamt nicht mehr als 106 Nein-Stimmen (35 + 71) zustande kamen.

Wenn man nun bedenkt, dass die Ja-Stimmen nur relativ knapp über der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit lagen (493 – 465 = 28), dann bedeutete dies aus der Perspektive der Nein-Stimmen formuliert: 29 weitere Nein-Stimmen hätten genügt, um die Zahl der Ja-Stimmen gerade unter die Zwei-Drittel-Mehrheit von 465 Stimmen zu drücken. Daraus folgt, dass 135 Nein-Stimmen (106 + 29) genügt hätten, um die Zustimmung zum ESM-Vertrag zu verweigern. Aber der Fraktionszwang innerhalb der zunächst berücksichtigten vier Parteien hat das verhindert (denn nur aus diesen hätten ja die zusätzlich „benötigten“ 29 Nein-Stimmen kommen können).

Es ist klar, dass die Einpeitscher mit diesem Ergebnis „hochzufrieden“ sein mussten. Doch was aus unserem allgemeinen Demokratieverständnis die offene Frage bleiben sollte: Wieso sollen politische, in der Öffentlichkeit als brisant eingestufte Streitfragen letztlich, gegebenenfalls recht knapp, dadurch entschieden werden können, dass zum Fraktionszwang gegriffen wird, der dem Grundgesetz widerspricht? Allerdings wäre es sozialpsychologisch betrachtet naiv anzunehmen, man könnte den Fraktionszwang „einfach verbieten“. Aber es gibt die Möglichkeit, die Auswirkungen des Fraktionszwanges zu entschärfen, indem die Abstimmungen im Bundestag generell geheim erfolgen. Dann kann und muss jeder Abgeordnete das letztlich mit seinem Gewissen ausmachen.

Da zweifellos auch die Fraktionen im Bundestag nicht gerne ein Stück ihrer Macht abgeben, muss mit Gegenargumenten gerechnet werden, wie „zu umständlich“, „ineffizient“, „weltfremd“. Aber lassen Sie sich nicht beirren. Es ist ja denkbar, mit einem dieser „verdammten Kompromisse“ anzufangen, sozusagen mit einem Kompromiss zwischen Machbarkeit und Gewissen, nämlich mit der Regelung: „Alle Abstimmungen, die eine Dreiviertelmehrheit erfordern, erfolgen geheim“. Denn was wir hier beim Fraktionszwang beobachten, ist ein Element repressiver Demokratie, und dies schon innerhalb der politischen Klasse selbst, und zwar „ausgerechnet“ bei denjenigen, die Sie als Volk zu vertreten haben. Sich dagegen zu wehren und in begrenztem Umfang geheime Abstimmungen zu verlangen, ehrt jeden Demokraten.

Weiter lesen: 4. Die unheimliche Herberge in Luxemburg

(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])