Allerdings gibt es bei den Kapitalabrufen noch ein anderes Problem. Die Idee, dass die 17 Mitgliedstaaten der Eurozone für die Verluste des ESM einspringen müssen, geht davon aus, dass alle Mitgliedstaaten sich gemäß den für sie geltenden Schlüsseln an der Abdeckung der ESM-Verluste zu beteiligen haben. Nun kann es aber sein, dass sich der eine oder andere Mitgliedstaat – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sieht, das abgerufene Haftungskapital, zumindest zum Zeitpunkt des Kapitalabrufs, zu zahlen. In diesem Fall „ergeht an alle (anderen?) ESM-Mitglieder ein revidierter erhöhter Kapitalabruf, um sicherzustellen, dass der ESM die Kapitaleinzahlung in voller Höhe erhält“ (Art. 25, Abs. 2).
Wie bedeutsam diese Umverteilung von zu zahlendem Haftungskapital zwischen Mitgliedstaaten ist, hängt einerseits von der Höhe des Kapitalabrufs insgesamt ab, andererseits von der Größe des zahlungsunfähigen Mitgliedstaates, auch davon, ob mehrere Mitgliedstaaten gleichzeitig das Haftungskapital nicht zahlen können, und wie lange die Zahlungsunfähigkeit andauert. Was letztlich sein wird, ist eine „Tatfrage“. Man kann aber, um sich ein Bild von möglichen Größenordnungen zu machen, ein kleines Gedankenexperiment anstellen und fragen, was unter bestimmten Bedingungen an zusätzlichen Belastungen eintreten würde.
Nehmen wir an, die insgesamt abrufbaren 620 Milliarden werden innerhalb von zwei Jahren zu zwei gleichen Teilen abgerufen, und in dieser Zeit können folgende Mitgliedstaaten das abgerufene Haftungskapital nicht zahlen: Griechenland, Irland, Portugal und Spanien. Der dem ESM damit pro Jahr fehlende Gesamtbetrag von rund 58 Milliarden (gemessen an dem im ESM-Vertrag im Anhang I genannten Schlüssel) wird auf die übrigen, noch „leistungsfähigen“ Mitgliedstaaten (in Relation ihrer Schlüssel zueinander) verteilt. Für Deutschland ergibt sich (beide Jahre zusammengefasst): Zu den ursprünglichen 168 Milliarden kommen 39 Milliarden hinzu, so dass der „revidiert erhöhte Kapitalabruf“ 207 Milliarden beträgt. Zusammen mit der in jedem Fall fälligen Kapitaleinzahlung in Höhe von 22 Milliarden sind wir dann mit 229 Milliarden dabei (22 + 168 + 39).
Um eine weitere Größenordnung abzugreifen, soll nun unterstellt werden, dass unter sonst gleichen Bedingungen im zweiten Jahr auch Italien das abgerufene Kapital (55,5 Mrd.) nicht zahlen kann. Dann bedeutet das für Deutschland (wiederum die zwei Jahre zusammengefasst), dass beim „revidiert erhöhten Kapitalabruf“ zu den 168 Milliarden 68 Milliarden hinzukommen, und insgesamt sind wir dann mit 258 Milliarden dabei (22 + 168 + 68).
Aber ich will Sie jetzt nicht mit weiteren Zahlen „quälen“. Ich will auch nicht ausschließen, dass mit meinem Gedankenexperiment bloß „der Teufel an die Wand gemalt“ worden ist. Die Kapitalabrufe und die Zahlungsausfälle mögen merklich geringer sein als angenommen. Nur so viel sollte wenigstens festgehalten werden: Wenn uns unsere Spitzenpolitiker versichern, maximal könnten auf Deutschland 190 Milliarden als Belastung zukommen, so ist das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch – oder sollte man lieber sagen: mit einer an Wahrscheinlichkeit grenzenden Sicherheit? Ergänzend muss ja auch bedacht werden, dass Aufschläge im Sinne der Belastungsstufe zwei hinzukommen können. Im Übrigen: All das spielt sich im Rahmen der 700 Milliarden Euro an gezeichnetem Stammkapital ab, mit denen der ESM beginnt!
Weiterlesen: 11. Erhöhung des Stammkapitals: Belastungsstufe vier
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])