Angesichts all dieser Konsequenzen muss man sich schon fragen, was haben sich unsere Volksvertreter dabei gedacht, als sie mehrheitlich für den ESM-Vertrag stimmten? Jedenfalls haben sie mehrheitlich akzeptiert, dass die Bürger, die sich unmittelbar dagegen nicht wehren konnten, finanziell in einem bislang nicht gekannten Umfang geknebelt werden, und dass dies mit einer Umverteilung von unten nach oben verbunden ist.
Der 29. Juni 2012 wird, was das Demokratieverständnis unserer politischen Klasse betrifft, als ein Schwarzer Freitag in die Geschichte der deutschen Demokratie eingehen. Denn dass die politische Klasse diesen Weg einer finanziellen Knebelung der Deutschen mehrheitlich gehen will, steht seit den Abstimmungen dieses Tages leider fest. Man kann auch sagen: Die politischen Klasse hat mehrheitlich gegen das Volk geputscht – wenigstens im europapolitischen Sinn.
Das gilt unabhängig davon, dass außerdem in einem wesentlichen Umfang weitere Souveränitätsrechte von den Mitgliedstaaten auf die EU, hier auf den ESM, übertragen werden (sollen). Die Mehrheit der Volksvertreter ist also auch bereit, für eine schwere zusätzliche finanzielle Belastung sich selbst und damit auch das durch sie vertretene Volk in weiteren wesentlichen Schritten zu entmachten.
Mit dem ESM ist angeblich ein „Mechanismus“ akzeptiert worden. Doch Vorsicht. Der den Gouverneuren eingeräumte Handlungsspielraum ist kaum noch weiter auszuweiten. Deren schon eher in Willkürherrschaft ausartendes Handeln hat mit einem „Mechanismus“ schlechterdings nichts zu tun. Die Vorstellung trifft schon besser auf die Situation der geknebelten Bürger zu: Die Regeln, mit denen die Zahlung von Haftungskapital gesteuert wird, lassen weder einen inhaltlichen noch einen nennenswerten zeitlichen Spielraum und verdienen so in der Tat die Bezeichnung „Mechanismus“.
Für den ESM-Vertrag in der Fassung, in der er von unseren Volksvertretern mehrheitlich am Freitag, dem neunundzwanzigsten, angenommen wurde, passt nach all dem eher das Motto: Alle Macht den Gouverneuren, alle Halbmacht den Volksvertretern und alle Ohnmacht dem Volk.
Weiterlesen: 15. Empörungen in unserer Zivilgesellschaft: Verfassungsbeschwerden
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])