Vergessen Sie nicht, dass uns Deutschen in den 90er Jahren die Europäische Währungsunion als „Stabilitätsgemeinschaft“ angekündigt wurde: mit der Geldwertstabilität des Euro im Zentrum. So sah es auch das Bundesverfassungsgericht, als es am 12. Oktober 1993 im Urteil zum Maastrichter Vertrag feststellte: „Der Vertrag setzt langfristige Vorgaben, die das Stabilitätsziel (gemeint ist ein stabiles Preisniveau) zum Maßstab der Währungsunion machen, die durch institutionelle Vorkehrungen die Verwirklichung dieses Zieles sicherzustellen suchen und letztlich – als ultima ratio – beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen“ (Abschnitt C.I.2.e).
Zu den vom Bundsverfassungsgericht erwähnten „institutionellen Vorkehrungen“ gehörten neben den „Konvergenz“-Kriterien für die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vor allem das Verbot der Haftung für die Schulden anderer Mitgliedstaaten und die Verpflichtung der Europäischen Zentralbank (EZB), in der Geldpolitik primär das Ziel der Geldwertstabilität zu verfolgen. Dementsprechend wurde, wie Sie sich erinnern werden, in den ersten Jahren nach Einführung des Euro auf die Realisierung der Geldwertstabilität immer wieder mit Genugtuung hingewiesen.
Bedenken Sie, dass die ganze, immer mehr in Hektik und Repressionen ausartende Politik der „Rettungsschirme“ im Frühjahr 2010 damit begann, dass das Verbot, für die Schulden anderer Mitgliedstaaten zu haften, gebrochen wurde, und die EZB flankierend mit einem Ankauf von Staatspapieren zur unmittelbaren Stützung von Schuldnerstaaten begann, und damit die Bestimmung, primär der Geldwertstabilität zu dienen, ebenfalls gebrochen wurde. Wichtige Voraussetzungen für eine Stabilitätsgemeinschaft waren damit bereits beseitigt.
Dennoch wurde im Frühjahr 2010 behauptet, nur durch die Haftung für die Schulden anderer Mitgliedstaaten, nur durch das entschlossene Eingreifen der EZB könne die Stabilität des Euro gesichert werden, nur so könne dieser gerettet werden. Und um ihn permanent zu retten, wird nun angeblich ein permanenter ESM benötigt, mit dem den Steuerzahlern permanent Haftungskapital abgenötigt werden kann. Dieser Widerspruch löst sich nur auf, wenn man berücksichtigt, dass es bei den „Stabilitätshilfen“ der Rettungsschirme und bei den Interventionen der EZB um eine interventionistische Schuldenpolitik geht, die unter „Stabilisierung“ ein kurzfristiges und kurzsichtiges Krisenmanagement versteht und „im Zweifel“ auf eine Stabilitätsgemeinschaft im Sinne der Geldwertstabilisierung keine Rücksicht mehr zu nehmen beabsichtigt.
Dass tatsächlich die auf Vertragsbrüchen aufbauende interventionistische Schuldenpolitik die Eurozone als Stabilitätsgemeinschaft zu zerstören beginnt, lässt sich an zwei dicht aufeinander folgenden Ereignissen ablesen.
Einerseits wird – spätestens seit Ende Juli 2012 – öffentlich und laut darüber nachgedacht, dem ESM ein weiteres Instrument an die Hand zu geben: Die Gouverneure sollen berechtigt werden, bei der EZB ohne jedwede Beschränkung Kredite aufnehmen zu können, um damit Schuldnerstaaten oder wohl auch Banken direkt weitere Finanzhilfen zu gewähren. Dadurch würde der ESM Hand in Hand mit der EZB zu einer Inflationsmaschine ausgebaut werden. Nach Presseberichten sollen Frankreich und Italien sowie führende Mitglieder der EZB derartige Pläne befürworten. Aber wen wundert das noch?
Andererseits zeigt der EZB-Beschluss vom 6. September 2012, unbefristet Staatanleihen von Mitgliedstaaten anzukaufen, dass die EZB mit einer rigorosen Geldschwemmenpolitik bereit ist, die Geldwertstabilität (endgültig) zu opfern. Das besonders Fatale daran ist, dass, wie aus der Presse zu entnehmen war, maßgebliche Europapolitiker, wie der EZB-Chef Draghi selbst, aber auch die Bundeskanzlerin, dieses Verhalten der EZB mit dem Hinweis zu rechtfertigen versuchen, die EZB habe „unabhängig“ und „im Rahmen ihres Mandats“ gehandelt. Beides ist falsch.
Seit dem Maatrichter Vertrag gilt im Wortlaut völlig unverändert, auch in der in Lissabon formulierten Fassung als AEU-Vertrag: Die EZB muss „vorrangig das Ziel“ verfolgen, „die Preisstabilität zu gewährleisten“ (Artikel 127 AEUV). Damit sie dieses Ziel unabhängig verfolgen kann, ist es der EU, den Mitgliedstaaten oder anderen Stellen verboten zu versuchen, die EZB „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“ (Art. 130 AEUV).
Im Gegensatz zu den Behauptungen von Draghi und Merkel ist diese, seit Maastricht gewollte Unabhängigkeit der EZB nicht gewahrt worden. Denn indem die EZB beschlossen hat, Staatsanleihen von Mitgliedstaaten zur deren gezielten Entlastung direkt anzukaufen, hat sie vertragswidrig ihre Unabhängigkeit von sich aus aufgegeben: Sie hat sich von den Einflüssen und Einflüsterungen, ja dem Druck überschuldeter Mitgliedstaaten, Staatsanleihen gefälligst anzukaufen, abhängig gemacht. Sie hat sich von den Schwankungen der Zinsen auf dem Kapitalmarkt und damit den Entscheidungen der Finanzoligarchie abhängig gemacht. Sie hat sich in ihren Entscheidungen vom Wechselkurs des US-Dollar zum Euro abhängig gemacht, ohne zu sagen, warum der Euro gerade bei diesem Kurs „stabilisiert“ werden soll. Nach all dem ist der Versuch von Politikern, dieses Vorgehen der EZB damit zu rechtfertigen, dass deren Unabhängigkeit respektiert werden müsse, an Zynismus kaum noch zu überbieten.
Die EZB hat allerdings schon im Frühjahr 2010 mit dem Ankauf von Staatsanleihen zur Stützung von Staatshaushalten begonnen.. Aber jetzt ist dieser Vertragsbruch durch die Absicht, unbefristet so vorzugehen, vertieft worden. 16 von 17 Mitgliedern des EZB-Rats haben dem zugestimmt – welch schöner Fortschritt in der öffentlichen Verwahrlosung! Der Bundesbankpräsident Jens Weidmann ist zwar niedergestimmt worden. Aber es war keine Niederlage, vielmehr war sein Verhalten ein Protest gegen die Verantwortungslosigkeit.
Genauso unzutreffend ist die Behauptung, die EZB habe „im Rahmen ihres Mandats“ gehandelt. Denn ihr ist „der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln“ der Organe der EU, der Mitgliedstaaten und weiterer Körperschaften „verboten“ (Art. 123 AEUV). Doch genau diesen Mandatsbruch will sie jetzt mit noch mehr Intensität betreiben. Sie regt damit zu weiterer Staatsverschuldung an. Sie verschleppt und vergrößert das Problem, der Überschuldung Herr zu werden. Sie zerstört das Prinzip des eigenverantwortlichen Handelns der Mitgliedstaaten und deren Gläubiger und verstößt damit gegen das weitere Mandat, „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ zu handeln (Art. 127 AEUV). Sie vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Schrottpapieren sitzen bleibt, und damit die Steuerzahler auch auf diesem Wege haftbar gemacht werden. Die Deutschen „natürlich“ mit guten 27 Prozent.
Die EZB handelt schließlich auch deshalb gegen ihr Mandat, weil sie das ihr vorgegebene Ziel, die Geldwertstabilität zu wahren, mit den Aufkäufen von Staatanleihen zumindest längerfristig in höchstem Maße gefährdet. Mit ihrer Geldschwemmenpolitik droht eine Inflation, die viele erbarmungslos in die Altersarmut treiben wird. Die Reichen trifft das bekanntlich am wenigsten. Mit der Inflation wird der Euro von innen zerstört. Ihn durch die Schuldenpolitik „retten“ zu wollen oder zu müssen, entpuppt sich damit endgültig als haltlos. Der 6. September 2012 hat die große Chance, zum Tag des Verrats an den Deutschen zu werden. Oder begreift die Bundesregierung endlich, dass es so nicht weitergehen kann?
Wir müssen also feststellen, dass es den Interventionisten gar nicht um die Stabilität des Euro geht, der mit der Inflation von innen zerstört wird, sondern darum, den Schuldenmachern die Verantwortung für ihr Handeln abzunehmen. Das Ergebnis ist eine im präzisen Sinne verantwortungs-lose Gesellschaft.
Wehren Sie sich mit aller Entschiedenheit dagegen, dass wir durch den ESM Hand in Hand mit der EZB mit unbegrenzten Haftungssummen und verschärfter Inflation in die Zange genommen werden. Fragen Sie die Bundesregierung und die Volksvertreter, wie sie uns vor diesem Irrwitz zu schützen gedenken. Fragen Sie, ob nicht ein rechtzeitiges Umdenken notwendig ist. Staat, Banken und andere Akteure müssen wieder gezwungen werden, die Verantwortung für ihr Handeln primär selbst zu tragen. Oder sollen wir erst ins Elend gestürzt werden, bevor sich die Bundesregierung und die Mehrheit der Volksvertreter veranlasst sehen zu reagieren?
Und schließlich, machen wir den Europapolitikern um uns herum, die glauben, auf Deutschland als „Spielverderber“ herumhacken zu können, klar, dass wir es ablehnen, uns wahlweise nur als Esel oder Goldesel behandeln zu lassen.
Weiterlesen: Ergänzende und weiterführende Literatur
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])