Eine weitere Belastung mit Haftungskapital lässt sich nämlich mit Hilfe des Stammkapitals realisieren. Den Ansatz dazu bietet folgende Vertragsregelung: Der Gouverneursrat überprüft „die Angemessenheit des genehmigten Stammkapitals des ESM regelmäßig, mindestens jedoch alle fünf Jahre. Er kann beschließen, das genehmigte Stammkapital zu verändern…“ (Art. 10, Abs. 1). Nun bietet eine „Veränderung“ auch die Möglichkeit, das gegenwärtig existierende Stammkapital zu senken. Hier also wieder der stille Zynismus? Denn wir dürfen wohl davon ausgehen, dass es den Machern des ESM-Vertrages de facto nur um Erhöhungen des Stammkapitals ging.
Der Gouverneursrat muss bei seinen Beschlüssen, das Stammkapital zu erhöhen, Einstimmigkeit der an der Abstimmung teilnehmenden Mitglieder erzielen. Hier schlägt demnach die Stunde der Leute mit Zivilcourage. Denn ein Gouverneur, der gegen eine zur Abstimmung stehenden Erhöhung des Stammkapitals stimmt, blockiert diese. Vielleicht springen ihm andere Gouverneure bei. Im Kreis der 17 Gouverneure mag es eine hitzige Debatte gegeben haben. Aber zunächst setzen sich der oder die „Nein“-Sager durch.
Da aber die Gouverneure „regelmäßig“ über mögliche Erhöhungen des Stammkapitals nachdenken müssen, ist damit zu rechnen, dass das Thema bald wieder auf die Tagesordnung genommen wird, zumal es keine Regelung gibt, die dafür einen Mindestabstand vorsehen würde. Dann sehen sich die bisherigen „Nein“-Sager erneut dem Druck der wahrscheinlich in der Überzahl befindlichen „Ja“-Sager ausgesetzt. Die Zahl der „Nein“-Sager wird abbröckeln, und schließlich wird auch der letzte „Nein“-Sager womöglich gegen seine eigene Überzeugung klein beigeben:
Er kann sich der Stimme enthalten, wohl wissend, dass er damit die Einstimmigkeit für die Erhöhung des Stammkapitals nicht mehr verhindern kann (da seine Enthaltung nach Art. 4 einfach nicht mitgezählt wird). Oder er stimmt resignierend sogar mit „Ja“ und tröstet sich damit, dass ein die Höhe des Stammkapitals betreffender Beschluss der Gouverneure ohnehin noch von sämtlichen Mitgliedstaaten der Eurozone bestätigt werden muss. Denn es heißt weiter: „Dieser Beschluss tritt in Kraft, nachdem die ESM-Mitglieder dem Verwahrer (= dem Generalsekretariat der Rates der EU) den Abschluss ihrer jeweiligen nationalen Verfahren notifiziert haben“ (Art. 10, Abs. 1). Die letzte Verantwortung für eine Erhöhung des Stammkapitals liegt demnach bei den Mitgliedstaaten.
Diesem Sachverhalt hat die Bundesregierung dadurch Rechnung getragen, dass im Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag der Passus aufgenommen wurde: „Erhöhungen des genehmigten Stammkapitals nach Artikel 10 Absatz 1 des Vertrags bedürfen zum Inkrafttreten einer bundesgesetzlichen Ermächtigung zur Bereitstellung weiteren Kapitals“. Damit sind also unsere Volksvertreter am Zuge, und die Frage ist, ob man prognostizieren kann, wie das wohl aussehen könnte.
Weiterlesen: 12. Internationaler Druck das ESM-Stammkapital betreffend
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])