Nun lässt sich, was die Funktionsweise des ESM betrifft, zweifellos ein „Idealfall“ denken. Nachdem das Stammkapital des ESM in Höhe von 700 Milliarden Euro festgelegt worden ist, läuft in einem angenommenen Idealfall „alles wie am Schnürchen“:
Die von Schuldnerstaaten in Anspruch genommenen Stabilitätshilfen erweisen sich als Überbrückungshilfen, weil die mit den Stabilitätshilfen gewährten „Verschnaufpausen“ von den betreffenden Schuldnerstaaten erfolgreich zur Beseitigung der inkriminierten ökonomischen Probleme genutzt werden; und weil die Schuldnerstaaten die mit dem ESM vereinbarten Zinsen zahlen sowie die Stabilitätshilfen bei Fälligkeit pünktlich zurückzahlen. Dann hat auch der ESM keine Probleme, seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber seinen eigenen Gläubigern fristgerecht nachzukommen. Damit gilt auch: Von dem beim ESM durch die Mitgliedstaaten bereits eingezahlten Kapital braucht seitens des ESM nichts als Verlust abgeschrieben zu werden und von den Mitgliedstaaten kein Haftungskapital abgerufen zu werden.
Doch was einfache Überlegungen nahelegen und Beobachtungen bestätigen, ist dies: Kredite, die den „notleidenden Mitgliedstaaten“ als Stabilitätshilfe gewährt werden, bergen ein höheres Risiko als sonst üblich in sich, nicht zurückgezahlt werden zu können. Gleichartiges gilt für von „notleidenden Mitgliedstaaten“ zum Zwecke der Stabilitätshilfe angekaufte Staatsanleihen: sie werden leichter zu „Schrottpapieren“ (wenn sie es nicht schon beim Ankauf sind). Deshalb muss mit erhöhter Dringlichkeit in der ESM-Bilanz mit Verlusten gerechnet werden, durch die der ESM in eine Zwickmühle gerät, da er andererseits gegenüber seinen Gläubigern weiterhin verpflichtet ist, Zinsen zu zahlen und von ihm ausgegebene Anleihen bei Fälligkeit einzulösen.
Der springende Punkt ist somit der: Wie soll mit den Verlusten des ESM umgegangen werden? Der ESM-Vertrag gibt darauf folgende Antwort: „Verluste aus den Operationen des ESM werden beglichen a) zunächst aus dem Reservefonds, b) sodann aus dem eingezahlten Kapital und c) an letzter Stelle mit einem angemessenen Betrag des genehmigten nicht eingezahlten Kapitals …“ (Art. 25).
Zu dem vom Gouverneursrat erst noch einzurichtenden Reservefonds existieren noch keine Erfahrungen, sodass dieser in der folgenden Einschätzung noch unberücksichtigt bleiben muss. Außerdem ist das in fünf Jahresraten einzuzahlende, dann „eingezahlte“ Kapital gemessen an den möglichen Verlusten des ESM anfänglich noch nicht sonderlich groß, deshalb auch nicht die Möglichkeiten, auf diesem Wege ESM-Verluste zu begleichen. Aber auch das ist für den ESM kein Problem. Denn die aus Perspektive des ESM „abrufbaren Anteile“, alias das aus Perspektive der Mitgliedstaaten garantierte Haftungskapital, stehen dem ESM vom ersten Tag seiner Existenz an zur Verfügung.
Weiterlesen: 8. Die ganz normalen Kapitalabrufe: Belastungsstufe eins
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])