Entscheidend für den Ausgleich von ESM-Verlusten sind demzufolge die Regeln, die für den Abruf von Haftungskapital gelten. Das Reservoir besteht, wie wir wissen, auf Basis des anfänglichen Stammkapitals aus den 620 Milliarden Euro insgesamt und darunter ist Deutschland gemäß dem Schlüssel von 27,1464 Prozent mit 168 Milliarden beteiligt. Das gilt wenigstens „zunächst einmal“.
Der Gouverneursrat kann derartiges Kapital „jederzeit abrufen“ (Art. 9). Über die Höhe und den Zeitpunkt müssen die an der Abstimmung teilnehmenden Mitglieder des Gouverneursrats „im gegenseitigen Einvernehmen“, das soll heißen, einstimmig entscheiden. Stimmenthaltungen bei der Beschlussfassung werden nicht mitgezählt, sodass ein einstimmiger Beschluss der übrigen Mitglieder durch Enthaltungen nicht gefährdet ist (Art. 4).
Sofern Einstimmigkeit bei der Beschlussfassung des Gouverneursrats verlangt wird, kann mit einer Neinstimme ein Beschluss blockiert werden. Hier also könnte beispielsweise das deutsche Mitglied gegen einen seiner Auffassung nach zu hohen und/oder zu frühen Abruf von Haftungskapital sein Veto einlegen. Doch wie lange ist das von ihm durchzuhalten, wenn andere Mitglieder ihn dagegenhaltend „bearbeiten“, vor allen Dingen solche Mitglieder, die Länder vertreten, für die die Stabilitätshilfen besonders wichtig waren oder sind? Nach allem, was wir sonst so beobachten, ist damit zu rechnen, dass das deutsche Mitglied unter dem Druck anderer Mitglieder klein beigeben wird. Dann bleibt noch ein gewisser Trost: Der ESM-Vertrag schreibt „eine angemessene Frist“ für die Einzahlung abgerufenen Kapitals vor (Art. 9).
Doch auch dazu gibt es eine für die Mitgliedstaaten empfindliche Einschränkung. Für den ESM ist ein Verlustausgleich und damit verbunden ein „rechtzeitiger“ Kapitalabruf ja deshalb so wichtig, damit er „bei planmäßigen oder sonstigen fälligen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gläubigern des ESM nicht in Verzug gerät“ (Art. 9). Um dahingehenden eventuellen Schwierigkeiten vorzubeugen, räumt der ESM-Vertrag dem Geschäftsführenden Direktor das Recht ein, den Kapitalabruf mit der „unwiderruflichen und uneingeschränkten“ Verpflichtung zu verbinden, das Kapital „innerhalb von sieben Tagen ab Erhalt der Aufforderung einzuzahlen“ (Art. 9).
Was diese Sieben-Tage-Regelung besonders bedrohlich macht, ist die Tatsache, dass auch jetzt weder über die Höhe des abgerufenen Kapitals noch darüber etwas gesagt wird, in welchen Abständen derartige Forderungen gestellt werden dürfen.
Das zuvor zu den Aufrufen des ESM Gesagte lässt sich beispielsweise für Deutschland in zwei schlichten Sätzen zusammenzufassen: Es ist aus mehreren Gründen höchst unsicher, in welcher Stückelung und zu welchen Zeitpunkten aus dem Garantiebetrag in Höhe von 168 Milliarden Euro Haftungskapital gezahlt werden muss und damit, wann dieser Betrag ausgeschöpft sein wird. Sicher ist nur, dass eine Knebelung stattfindet, sobald der ESM mit seinen Abrufen beginnt.
Weiterlesen: 9. Kapitalabrufe mit Aufschlag: Belastungsstufe zwei
(aus: „Lasst Euch das nicht gefallen! Eine Streitschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus“ von Prof. em. Dr. Franz-Ulrich Willeke [PDF-Datei zum Herunterladen])